100 Jahre Johann-Ernst Seidel: Ein Könner mit Bleistift und Tusche

„Künstler und Verkaufskanone“ betitelte eine Tageszeitung Anfang der 60er-Jahre einen Artikel über den Gebrauchsgrafiker Johann-Ernst Seidel (1920-1973) aus Malente. Er galt als einer der bekanntesten Grafikdesigner im norddeutschen Raum. Zu seinem 100. Geburtstag am 9. November hatte Tochter Julia Freese eigentlich eine kleine Werkschau vorbereitet, deren Eröffnung aber Corona-bedingt aufs nächste Jahr verschoben werden muss.

Fundierte Ausbildung war Voraussetzung für Beruf des Grafikers

Die Ausstellung solle nicht nur an ihren Vater und sein Werk erinnern, sondern auch zeigen, „dass damals für diesen Beruf neben künstlerischer Begabung eine fundierte Ausbildung und die Kenntnis verschiedenster handwerklicher Techniken Voraussetzung war“, betont Julia Freese. Auf der Kieler Muthesius Kunsthochschule lernte Seidel den Umgang mit Bleistift, Tusche, Aquarell-, Pastell- und Ölfarbe oder die Scherenschnitttechnik. Nach dem Abschluss 1939 wurde er direkt vom Militär eingezogen, konnte aber in einer Schreibstube seine Fähigkeiten zum Einsatz bringen. Davon zeugen auch Studien düsterer Kriegsbilder oder Landschaftsmotive aus Odessa, die in der umfangreichen Sammlung enthalten sind, die Seidel seiner Familie hinterlassen hat.

Eigenwerbung mit einer Mappe voller Handzeichnungen

Aus Kriegsgefangenschaft kehrte der junge Mann 1946 lungenkrank nach Hause zurück, lernte in der Malenter Lungenheilanstalt seine spätere Ehefrau Erika kennen. „Um seine Familie zu ernähren, begann er seine Fähigkeiten anzupreisen und besuchte mit einer Mappe voller Handzeichnungen viele Betriebe“, berichtet Julia Freese. Einer seiner ersten Kunden war die Eutiner Firma Stöckel, für die er Briefpapier entwarf und Eisportionierer für die Werbung zeichnete. Für die Schwartauer Werke entwarf er nicht nur Anzeigen, sondern auch Etiketten für Marmeladengläser.

Werk zeugt von unbändiger Kreativität und enormer Präzision

Weithin bekannt sind seine Schleswig-Holstein-Bildkarte, die er für den Sparkassen- und Giroverband herstellte, sowie die Auto-Wander-Karten des Esso-Konzerns. Büchereinbände, Plakate (unter anderem das erste der Eutiner Festspiele), Firmensignets, Produktverpackungen und unzählige Broschüren für den Fremdenverkehr vor Ort und über die Landesgrenzen hinaus zeugen von unbändiger Kreativität, enormer Präzision und Technikbegeisterung. Am 7. Mai 1973, dem Tag, an dem er zum Chefdesigner der Lübecker Dräger-Werke ernannt worden war, kam Seidel mit seiner Frau bei einem Verkehrsunfall ums Leben.

 

Julia Freese präsentiert einen Entwurf ihres Vaters für einen Malente-Prospekt. Im Hintergrund: seine bekannten Landkarten. Johann-Ernst Seidel war ein echter Handarbeiter. Auch Etiketten für Produktverpackungen hat er entworfen. (Fotos: hfr/Graap)

 

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