Der Ort war passend gewählt. Willy Brandt beendete traditionell seine Wahlkampftouren in Lübeck. Und genau von hier startete Martin Schulz am Sonntag seine Kampagne für die kommende Bundestagswahl. Fast eine Stunde lang redete der Bundeskanzlerkandidat der SPD in der Kulturwerft Golland vor über 1000 begeisterten Menschen.
Einen Schlüsselsatz sprach der ehemalige Vorsitzende des EU-Parlaments erst in der Mitte seiner emotionalen Rede aus. „Die SPD darf nicht nur auf die Statistiken schauen. Wir müssen das Gefühl der Menschen ernst nehmen“, sagte er. An dieser Stelle sprach Schulz eigentlich davon, dass die Polizeistatistik und das subjektive Sicherheitsgefühl der Bürger manchmal auseinanderdriften. Aber im Kern stimmte diese Aussage für viele der Themen, die der Shooting-Star der Sozialdemokraten umriss. Er forderte mehr Geld für die Bildung, mehr Steuergerechtigkeit, sichere Renten, besseren Tierschutz und nachhaltige Landwirtschaft, einen starken Kampf gegen Populisten und Demagogen und mehr Einsatz für Europa.
Das zentrale Motto des Kanzlerkandidaten war „Mehr Gerechtigkeit“. Das ist nichts Neues für einen Politiker, geschweige denn für einen Sozialdemokraten. Martin Schulz gelang es jedoch, diese Losung mit Leben zu füllen, auch mit seinem eigenen. Als er mehr Ausgaben für die Bildung forderte, sprach auch der lustlose Schüler, der das Abitur nicht geschafft hatte. Als Schulz von der Orientierungslosigkeit der Jugend redete, klangen die Erinnerungen an seine Zeit als verhinderter Fußballer und junger Alkoholiker mit. Und wenn er die Alltagsprobleme der Menschen in der Provinz erwähnte, meldete sich der ehemalige Bürgermeister von Würselen bei Aachen zu Wort. Selbst die für Lübeck-Besucher obligate Reverenz an Thomas und Heinrich Mann kam dem früheren Buchhändler ungekünstelt über die Lippen.
Der sogenannte Schulz-Effekt war in der Kulturwerft deutlich zu spüren. Die Menschen jubelten und klatschten lange Beifall. Auch Andrea Lieder-Hein ließ sich begeistern: „Schulz hat die Kraft, Menschen zu begeistern“, sagte sie. Ilse Schumacher, seit 30 Jahren Genossin, war mehr für Sigmar Gabriel als Kanzlerkandidat, „aber er kommt bei den Menschen nicht so gut an wie Martin Schulz.“ Selbst Nicht-Parteifreunde zollten dem SPD-Kandidaten Respekt. So wie Reino Groth: „Eigentlich bin ich von der CDU“, sagte der 75-Jährige, der aber Schulz lobt: „Er hat Leuten wie Berlusconi die Stirn geboten, das finde ich toll.“
Wie stark Martin Schulz die Menschen mitnehmen kann, davon zeugen die rasant angestiegenen Parteieintritte. Über 3000 neue Mitglieder zählt die SPD, seitdem er Kanzlerkandidat wurde. Genüsslich feierten mit Martin Schulz auch Ministerpräsident Torsten Albig und SPD-Landeschef Ralf Stegner die letzten Umfragen vom „Sonntagstrend“. Nach der Erhebung des Wahlforschungsinstituts Emnid kommt die SPD auf 33 Prozent der Wählergunst und überflügelt die CDU um einen Prozentpunkt. Zumindest diese Statistik ist den Genossen doch wichtig. SDF
1000 Besucher bei Martin Schulz in Lübeck
